Die Europäische Union kriegt sie einfach nicht los, die Krise. Erst war es die Wirtschaftskrise, es folgte die Schuldenkrise, dann die Griechenlandkrise. Und jetzt ist da die Flüchtlingskrise, die für eine Glaubwürdigkeitskrise sorgt. Ja, die Europäische Union macht eine ziemlich schwere Phase durch. Die große Frage: Steht die EU das durch? Es ist allerhöchste Zeit, dass wir über die EU reden. Schon bald könnte es dafür zu spät sein.
Ich bin 1995 geboren. Die Europäische Union ist zwei Jahre älter als ich. Ein Europa, ein Deutschland ohne EU kenne ich also gar nicht. Ich muss mich schon sehr anstrengen, um mir vorzustellen, wie es in Europa zuging ohne EU. Aus Erzählungen von meinen Eltern weiß ich: Es gab Grenzkontrollen, zig verschiedene Währungen und in irgendeiner anderen Stadt Europas zu studieren, ging quasi nicht. Ich bin froh, dass ich zu der Generation gehöre, die ihr ganzes Leben schon von der EU profitiert. Ich kann einfach so nach Spanien an die Costa Brava fahren – ohne lange an der Grenze zu warten und ohne davor die Wechselkurse von deutscher D-Mark und spanischer Peseta zu checken. Und nächstes Jahr kann ich in England studieren, Studiengebühren muss ich nicht zahlen. Was ich auf der Insel lerne, wird hier sogar anerkannt.
Schengen, der Euro und Erasmus – die EU macht’s möglich. Aber wie langen noch? Um Schengen steht es jetzt schon ziemlich schlecht. Österreich, Schweden und Frankreich kontrollieren ihre Grenzen im Zuge der Flüchtlingskrise wieder. „Wer Schengen killt, wird den Binnenmarkt zu Grabe getragen haben“, und „ohne Schengen macht der Euro keinen Sinn“, hat Jean Claude Junker, Kommissionspräsident neulich erst gesagt. Erst Schengen, danach der Binnenmarkt und der Euro und was dann? Brüssel befürchtet anscheinend einen Dominoeffekt, der die gesamte EU umwirft.
„Die größte europäische Errungenschaft aller Zeiten ist die Europäische Union“, meinte mal ein Politiklehrer von mir, so ein Typ, der seinen deutschen Perso auf der Stelle gegen einen europäischen eintauschen würde. Eigentlich bin ich für so übertriebenen Enthusiasmus nicht zu haben. Recht hat mein damaliger Lehrer trotzdem – zumindest wenn man in den Geschichtsbüchern zurückblättert: 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs lag Europa in Schutt und Asche. Städten wurden zerstört, Familien auseinandergerissen und 80 Millionen Menschen getötet. Europa hasste sich.
Das alles ist erst 70 Jahre her. Und doch schon so in Vergessenheit. Meine Eltern haben den Krieg nicht erlebt. Meine Großeltern sind tot. Ein Europa, durch das unzählige Fronten verlaufen: Davon kriegt meine Generation nur noch im Geschichtsunterricht etwas mit. Ein zerrüttetes und kaputtes Europa wirkt für uns ganz weit weg. Ein Bewusstsein für die Vergangenheit Europas im ständigen Streit und Krieg ? Quasi nicht existent, weil: Is’ halt Geschichte und betrifft mich so semi, so ticken wir Menschen. Vor allem wir jungen Menschen, weil: Es macht halt schon einen gewaltigen Unterschied, ob man die Bomben nebenan einschlagen hört und Todesangst hat – oder es halt von Leuten erzählt bekommt, die den Krieg noch nicht mal selbst erlebt haben.
Heuteist ja alles besser. Wir leben in Frieden. Und Wohlstand. Und Freiheit. Die Attentate von Paris, die geplanten Terroranschläge an Silvester am Münchener Hauptbahnhof und der tagelange Ausnahmezustand in Brüssel haben gezeigt, wie fragil gerade die Sache mit dem Frieden ist. Aber ein echter Krieg steht uns in Europa eben auch nicht bevor.
Was ich mit all dem sagen will: Ein Verweis auf die vergangenen Leistungen hilft der EU nicht weiter, das zieht nicht. Die Europäische Union muss gerade jetzt beweisen, warum sie gebraucht wird und so wichtig für unser Zusammenleben in Europa ist. Damit sind wir beim Kern des Problems, bei den Krisen, die der EU ordentlich zu schaffen machen.
Bisher konnte sich die EU durch jede Krise irgendwie durchwurschteln. Aber die Nebenwirkungen dieses Durchwurschtelns sind bedenklich. Der europäische Institutionensalat ist bei vielen in unserer Generation als bürokratisches, geldschluckendes Monstrum abgespeichert – unfähig zu handeln, das heißt, unfähig auch mal eine Lösung zu finden, die das Problem löst und nicht nur aufschiebt. Die Flüchtlingskrise als wohl größte Herausforderung der EU-Geschichte macht dieses Kranken der EU überdeutlich. Klappt das mit der Umverteilung der Flüchtlinge, mit der Sicherung der Außengrenzen, mit den Hotspots, mit den Abschiebungen, mit der Integration? Fragen, die sich die Menschen in Deutschland und Europa stellen. Fragen, auf die Brüssel keine Antworten hat. Und Deutschland alleine erst recht nicht. Die Kanzlerin klebt im Spinnennetz ihrer eigenen Worte. Irgendwo zwischen „wir schaffen das“ und „das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze“.
Europa als Union ist eine historische Chance für Wohlstand, Freiheit und Frieden auf unserem gesamten Kontinent. War das nicht auch mal Idee, mit der die EU an den Start gegangen ist? Dafür müssen die Länder der Union aber wieder zu sich finden, haben die Krisen sie doch so sehr auseinander getrieben. Sie müssen wieder lernen füreinander einzustehen, die Sorgen eines Bürgers aus Thessaloniki genauso ernstzunehmen wie die eines Bürgers in Mailand oder in Budapest.
Ich sage: Die Krisen können dabei helfen. Indem sie uns auffordern, uns mit den wirklich wichtigen Fragen zu beschäftigen. Wie wollen wir Europäer miteinander leben? Wie stemmen wir gemeinsam die Herausforderungen jetzt und in Zukunft? Wie soll die EU aussehen, damit endlich Europäer über Europäer regieren?
Wenn wir über diese Fragen reden, diskutieren und-ja-auch streiten, hat die EU eine Zukunft, vielleicht sogar eine große.
Der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky hat schon 1926 gesagt: „Wir wohnen nicht mehr in einzelnen Festungen des Mittelalters, wir wohnen in einem Haus. Und dieses Haus heißt Europa“. Dieses „Haus Europa“ ist also unser Schicksal. Einen Weg zurück ins Mittelalter gibt es nicht. Zum Glück.
Es liegt jetzt an uns, dieses Haus zu einem europäischen Zuhause zu machen. Vielleicht müssen wir es dafür erst abreißen und wieder aufbauen. Vielleicht müssen wir auch nur endlich mal wieder aufräumen und Ordnung schaffen. Eines steht jedoch fest: Ein Dach über dem Kopf brauchen wir Europäer, sonst wird’s ungemütlich, wenn die Krise wieder durch Europa stürmt.