Politikerinnen und Politiker hören immer wieder die Unterstellung, dass sie lügen – auch aktuell im Bundestagswahlkampf 2021. Jetzt hat eine Studie der Universität Bamberg untersucht, wie verbreitet postfaktische Annahmen in der deutschen Politik und im Journalismus sind.
„In einer postfaktischen Politik werden Fakten und ein Wahrheitsbezug zunehmend unwichtiger“, erläutert Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Olaf Hoffjann von der Universität Bamberg. „Dies ist in Deutschland empirisch bislang kaum erforscht. Auch weltweit liegen hierzu nur wenige empirische Befunde vor.“ Deshalb haben er und Lucas Seeber vom Institut für Kommunikationswissenschaft eine Umfrage durchgeführt. Ein zentrales Ergebnis der bislang unveröffentlichten Studie ist, dass sich rund die Hälfte der Befragten als Teil einer postfaktischen Demokratie sieht. Zugleich erwarten mehr als 90 Prozent eine Politik, die ernsthaft, aufrichtig und mit Wahrheitsanspruch auftritt.
Bewusste Täuschung gilt als kritikwürdig
Die beiden Kommunikationswissenschaftler haben von Oktober 2020 bis Januar 2021 insgesamt 758 Personen aus drei Gruppen online befragt: Bundestags- und Landtagsabgeordnete, Pressesprecherinnen und -sprecher sowie Journalistinnen und Journalisten. Die Auswertung der Umfrage hat insbesondere zu folgenden Ergebnissen geführt:
- Die Befragten unterstellen Politikerinnen und Politikern selten Lügen (15 Prozent). Überraschend: Politiker unterstellen anderen Politikern häufiger (21,8 Prozent) Lügen, als dies deren Pressesprecher (5,1 Prozent) und sogar Journalisten tun (14,3 Prozent). Nur 1,2 Prozent denken, dass Lügen in der Politik legitim sind. Dagegen halten rund 32 Prozent sogenannten „Bullshit“ – das Ergänzen von ungeprüften Aussagen, die wahr sein könnten, um die These einer Aussage zu unterstützen – für weit verbreitet. Rund 5 Prozent der Befragten halten „Bullshit“ für legitim. Die Übertreibung in der Politik wird als weit verbreitet (rund 78 Prozent) und gleichzeitig von rund einem Drittel (33,8 Prozent) als eher legitim beschrieben. Olaf Hoffjann interpretiert: „Die bewusste Täuschung gilt offenbar als kritikwürdiger als ein gleichgültiges Verhältnis gegenüber der Wahrheit.“
- 50,8 Prozent der Befragten sehen sich als Teil einer postfaktischen Demokratie. Das heißt, sie unterstellen Politikerinnen und Politikern, dass ihnen der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen eher unwichtig sei. Von den drei befragten Gruppen glauben vor allem Politikerinnen und Politiker nicht an eine faktische Politik (rund 55 Prozent). „Pointiert formuliert: Journalistinnen und Journalisten glauben eher an den Wahrheitsgehalt der Aussagen von Politikerinnen und Politikern als diese selbst“, sagt Lucas Seeber.
- Mehr als neun von zehn Befragten verurteilen Lügen und „Bullshit“ (rund 94 Prozent). Akteure, die Emotionalisierung sowie Lügen und Bullshit als eher nicht legitim bezeichnen werden in der Studie als „faktische Akteurinnen und Akteure“ bezeichnet.
- Fast alle Vertreterinnen und Vertreter der AfD glauben an eine postfaktische Politik (88,9 Prozent) – mit Abstand der höchste Anteil unter den Befragten. Zugleich halten auch 90 Prozent der AfD-Befragten Lügen, „Bullshit“ und Emotionalisierung für eher nicht legitim.
Wahrheitskrise in der Politik wird verurteilt
„Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass eine knappe Mehrheit von Abgeordneten und Journalistinnen oder Journalisten eine Wahrheitskrise in der Politik wahrnimmt“, interpretiert Olaf Hoffjann. „Aber eine sehr deutliche Mehrheit verurteilt dies. Mit anderen Worten: Fast alle Befragten, die sich als Bürgerinnen und Bürger einer postfaktischen Politik sehen, sind darüber nicht glücklich.“ Wie aber reagieren Politikerinnen und Politiker, die der Konkurrenz unterstellen, sie würde unrechtmäßige Methoden einsetzen? „Untersuchungen in anderen Betrugsfeldern argumentieren spieltheoretisch, dass dies dazu führen könne, dass auch andere zu solchen Methoden greifen, um ‚Waffengleichheit‘ herzustellen“, erklärt Olaf Hoffjann. „Und dennoch: Das überwältigende Ausmaß, mit dem Praktiken wie Lüge und ‚Bullshit‘ abgelehnt werden, stimmt mich optimistisch.“
Befragt wurden insgesamt 758 Abgeordnete des Bundestages und aller Landtage, Mitglieder der Bundespressekonferenz und aller Landespressekonferenzen sowie Pressesprecherinnen und -sprecher von Parteien, Fraktionen und Ministerien auf Bundes- und Landesebene. Die Umfragedaten nähern sich an die realen Verhältnisse an, können streng genommen jedoch nicht als repräsentativ gelten.