Chancen für alle, Wohlstand für alle, Arbeit für alle – diese drei Forderungen stehen im Inhaltsverzeichnis der 296 Seiten dicken Antragsbroschüre zum 25. CDU-Parteitag dicht an dicht. So schwierig kann deren Umsetzung auch gar nicht sein, denn „Deutschland steht gut da“ (Antrag Nr. A2 – Bundesvorstand). Ein ähnliches Bild zeichnet der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung – allerdings erst, nachdem einige unbequeme Passagen aufpoliert oder gar gestrichen wurden.
Für Regierungssprecher Steffen Seibert sind die vorgenommenen Änderungen ein „ganz normaler Vorgang“. Diese Ansicht teilt der Armuts- und Reichtumsforscher Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Er weist zudem darauf hin, dass der Bericht auf verschiedenen wissenschaftlichen Gutachten beruht: „Die Fakten stimmen, lediglich über die Auswahl und Interpretation der Daten lässt sich streiten.“
Augen vor der Realität verschlossen
Politikkollegen aus der Opposition hingegen sprachen unter anderem von „Vertuschung“, „Bilanzfälschung“ und einem „gestörten Verhältnis zur Wirklichkeit“. „Mich hat das nicht verwundert“, sagt der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge von der Universität Köln. Er sieht die Debatte um den Armutsbericht als Musterbeispiel dafür, wie Teile der Regierung die Augen vor der Realität verschließen. „Ihre Ignoranz gegenüber der Altersarmut und der Einkommenspolarisierung haben sie in dieser Posse dokumentiert.“ Grundsätzlich liege die Bewertung bei der Bundesregierung aber in den richtigen Händen, denn auch Wissenschaftler seien nie völlig wertneutral. „Die Regierung muss dabei Farbe bekennen.“
Ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung hatte die von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen Mitte September veröffentlichte erste Fassung mit einer aktuelleren verglichen, die in der Zwischenzeit alle weiteren Bundesministerien durchlaufen hat. Der Bericht ist ein bisschen schlanker und auch ein bisschen ansehnlicher geworden. „Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt“ – dieser Satz fehlt nun in der Einleitung, genau wie die Tatsache, dass im Jahr 2010 „in Deutschland knapp über vier Mio. Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter sieben Euro“ arbeiteten.
Interpretationsspielraum
Umformuliert wurde eine Feststellung zu der immer weiter aufgehenden Einkommensschere. Im Original hieß es: „Während die Lohnentwicklung im oberen Bereich positiv war, sind die unteren Löhne in den vergangenen zehn Jahren preisbereinigt gesunken.“ Eine Entwicklung, die „das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung“ verletze und „den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden“ könne, so steht es in Fassung Eins. Davon übrig geblieben ist die Aussage, dass sinkende Reallöhne „Ausdruck struktureller Verbesserungen“ am Arbeitsmarkt seien, denn zwischen 2007 und 2011 seien im unteren Lohnbereich viele neue Vollzeitjobs entstanden.
Auch die Situation mancher Singles, die in einem schlecht bezahlten Vollzeitjob arbeiten und damit ihren Lebensunterhalt nicht sichern können, kommentiert die Bundesregierung lediglich damit, dass dies „kritisch zu sehen“ sei. Zuvor hatte es noch geheißen, dies verschärfe die Armutsrisiken und schwäche den sozialen Zusammenhalt.
Die meisten Änderungswünsche kamen einem Agenturbericht zufolge aus dem FDP-geführten Wirtschaftsministerium und aus dem Kanzleramt. FDP-Chef Philipp Rösler hatte zu der ersten Fassung gesagt, diese entspreche nicht der Meinung der Bundesregierung. Vergangene Woche sagte er im „ZDF-Morgenmagazin“, dass es in den Bundesministerien unterschiedliche Sichtweisen zur sozialen Situation in Deutschland gebe.
Dass der Wohlstand der Nation sehr ungleich verteilt ist, bestreitet immerhin niemand: Das Nettovermögen privater Haushalte hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt, aber die reichsten zehn Prozent der Deutschen verfügen über mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens.