„Ich denke, es sollte jeder für sich entscheiden, ob er wählen geht oder nicht“, sagt Isabella Alves. In Deutschland ist das selbstverständlich, Isabella jedoch kann sich nicht entscheiden. Sie ist Brasilianerin, und in Brasilien sind alle Bürger zwischen 18 und 70 Jahren zur Abgabe ihrer Stimme verpflichtet. „Viele Menschen begreifen, dass sie durch ihre Stimme bei der Wahl nicht viel ändern können, egal, wen sie wählen. Deswegen werden wir gezwungen zu wählen, wer sich wehrt wird bestraft“, erklärt Isabella weiter. Wer in Brasilien nicht wählt, muss eine Geldstrafe zahlen. Wird diese nicht bezahlt, droht ein Ausreiseverbot. Außerdem darf der Zahlungspflichtige nicht mehr als Beamter arbeiten.
Wahlpflicht ist nicht gleich Wahlpflicht
Brasilien ist jedoch nicht das einzige Land mit einer Wahlpflicht. Weltweit ist in den Gesetzen von über 30 Ländern eine solche Pflicht vorgesehen. Es gibt zwei unterschiedliche Formen. Manche Länder haben eine reale, andere eine rein formelle Wahlpflicht. Die reale Wahlpflicht sieht Bestrafungen vor, sollte ein Bürger nicht zur Wahl erscheinen. Die formelle Wahlpflicht sieht entweder gar keine Bestrafungen vor oder führt diese nicht aus, existiert also nur auf dem Papier. Eine formelle Wahlpflicht gibt es beispielsweise in Griechenland und Italien, aber auch in vielen Staaten Südamerikas und in Indien.
Wenn bestraft wird, dann meist mit Geldstrafen. Diese sind unterschiedlich hoch. In der Schweiz sind es zum Beispiel zwei Schweizer Franken Geldbuße, in Bolivien 150 Bolivianos, wobei dort über die Hälfte der Bevölkerung nur rund 400 Bolivianos monatlich zum Überleben haben. Zum Teil erhöhen sich die Strafen bei wiederholtem Nichtwählen, zum Teil muss eine begründete Erklärung eingereicht werden, um an zukünftigen Wahlen wieder teilnehmen zu können. In manchen Ländern bezieht sich die Wahlpflicht nur auf bestimmte Gruppen. In Indonesien ist sie religiös bedingt nur für Muslime verpflichtend. Im Libanon und in Libyen unterliegen lediglich die Männer einer Wahlpflicht. Und in Guatemala müssen alle außer den Militärs wählen, Soldaten dürfen dort nicht wählen.
Mittel gegen geringe Wahlbeteiligung?
Vor allem nach Europawahlen, bei denen die Wahlbeteiligung oft besonders niedrig ist, kommt auch in Deutschland die Diskussion über eine Wahlpflicht auf. Wäre sie ein wirkungsvolles Mittel gegen Politikverdrossenheit? Beachtet man lediglich die Quote der Wahlbeteiligung, gibt es einen großen Zusammenhang zwischen Wahlpflicht und Anzahl der Stimmabgaben. In den Ländern mit Wahlpflicht, vor allem in jenen mit Sanktionen, ist die Wahlbeteiligung deutlich höher als in jenen ohne Pflicht. Auch in Ländern, in denen kaum oder sehr wenig sanktioniert wird, sind es immerhin etwa drei Prozent mehr Stimmabgaben. „Es ist selten, dass ein demokratischer Staat seinen Bürgern ein Wahlpflicht auferlegt“, betont die Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, Ursula Münch. Früher habe es eine moralische Wahlpflicht gegeben. „Aber das kann man nicht mit Gesetzen einholen.“
Das Wahlergebnis wird verfälscht
Die Wahlbeteiligung ist nicht der einzige Faktor, der das Ausmaß der Politikverdrossenheit einer Gesellschaft anzeigt. So kann die Nichtteilnahme an einer Wahl auch der Ausdruck der Ablehnung aller Alternativen auf dem Stimmzettels oder des politischen Systems an sich sein. Ein Bürger kann in großem Ausmaß politisch interessiert und engagiert sein und aus Protest nicht an der Wahl teilnehmen. „Es gehört zum demokratischen Recht, sich dafür zu entscheiden, nicht wählen zu gehen“, so Ursula Münch.
Ein Staat kann seine Bürger nicht zur Auseinandersetzung mit dem politischen System zwingen. Würden sonst nicht viele, die aktuell aus Desinteresse nicht wählen gehen, dem Zufallsprinzip nach irgendwo ein Kreuzchen setzen? Oder einfach ungültig wählen? Würde dies das Wahlergebnis am Ende sogar verfälschen? Gegenargumentieren lässt sich, dass durch eine geringe Wahlbeteiligung eine Mehrheit im Parlament sitzt, die faktisch nur einen Bruchteil der gesamten Bevölkerung repräsentiert, deren Politik aber alle betrifft.
Isabella aus Brasilien wünscht sich eine Abschaffung der Wahlpflicht. Sie war vor Kurzem in den USA und hat mitbekommen, wie viele Leute dort freiwillig wählen gehen. „Ich würde mir sehr wünschen, dass es in Brasilien auch so wird. Dass die Leute wissen, dass sie durch ihre Stimme etwas ändern können. Wer weiß was noch passiert, wir haben ja jetzt angefangen, die Augen zu öffnen.“