Globale Wirtschaft – Globale Ethik

Allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass ein ethisches Vorgehen im Bankgeschäft nicht nur möglich, sondern auch absolut notwendig ist. Tatsächlich spricht meines Erachtens vieles dafür, dass visionäre Unternehmen, die sich von ihren Werten leiten lassen und nicht das schnelle Geld, sondern einen langfristigen Wohlstand anstreben, einen sehr positiven Einfluss auf die Gesellschaft ausüben können.

Im Manifest zum globalen Wirtschaftsethos, das Herr Professor Küng im Oktober letzten Jahres bei den Vereinten Nationen vorstellte, wird dies sehr klar formuliert. So heißt es in der Präambel:

»Die Globalisierung des wirtschaftlichen Handelns wird nur dann zum allgemeinen und nachhaltigen Wohlstand und Vorteil aller Völker und ihrer Volkswirtschaften führen, wenn sie auf die beständige Kooperationsbereitschaft und wertorientierte Kooperationsfähigkeit aller Beteiligten und Betroffenen bauen kann.«

Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, wie wir unser Geschäft betreiben. Dabei müssen wir bedenken, was ein werteorientierter Ansatz für unser kapitalistisches System, für die großen Herausforderungen unserer Zeit und für jeden von uns persönlich bedeutet. Und wir müssen uns fragen, ob sich das Konzept einer „globalen Ethik“ sinnvoll definieren lässt. Dies sind die Fragen, denen ich mich heute Abend zuwenden will. Zunächst halte ich es aber für geboten, den größeren Kontext zu betrachten, in dem wir uns bewegen.

Eine Welt im Wandel

Natürlich haben wir noch mit den Folgen der schlimmsten Finanzkrise seit den 30er Jahren zu kämpfen. Während sich Deutschland auf einem guten Weg befindet – Rainer Brüderle rechnet damit, dass die Wirtschaft nächstes Jahr wieder das Vorkrisenniveau erreicht – gibt es in anderen Teilen Europas noch große Schwierigkeiten. Die Eurozone leidet unter den Nachwehen der Krise, wobei die Lage in Irland nur das jüngste Beispiel ist.

Diese Krise ist jedoch nur ein – allerdings sehr wichtiger – Aspekt einer größeren Problematik. Einige globale Verschiebungen machen dies zu einer Zeit schneller und gravierender Veränderungen.

Erstens verschiebt sich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft eindeutig von West nach Ost. Der Anteil Asiens an der globalen Wertschöpfung beträgt nur knapp über 30 Prozent, aber der Wachstumsbeitrag des Kontinents wird dieses Jahr sage und schreibe 60 Prozent erreichen. Dabei ist China in den letzten Wochen zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen, und alles deutet darauf hin, dass es Ende des Jahrzehnts die USA vom ersten Platz verdrängt haben wird.

In den nächsten fünf Jahren wird sich die chinesische Mittelschicht voraussichtlich von 172 Millionen auf 314 Millionen fast verdoppeln und damit größer sein als die Gesamtbevölkerung der USA. Die Wirtschaftsexperten bei meinem früheren Arbeitgeber HSBC sind sich einig, dass die Schwellenländer mit China an der Spitze in absehbarer Zukunft weltweit die höchsten Wachstumsraten erzielen werden.

Wir müssen erkennen, dass wir das unilaterale System hinter uns lassen und zu dem zurückkehren, was eher der historischen Normalität entspricht, nämlich zu einem multilateralen Machtgleichgewicht. Das deutlichste Anzeichen dafür ist die wachsende Bedeutung der G20. In der Tat halte ich die Entstehung dieses neuen Forums als Zentralgremium zur Diskussion von Wirtschaftsfragen, die die Welt bewegen, für äußerst wichtig. So werden die Geschichtsschreiber dies in vielleicht 50 oder 100 Jahren als den Moment beschreiben, in dem sich die internationale Gemeinschaft der Realität gestellt und von der Vorstellung verabschiedet hat, dass ein paar reiche Länder zusammenkommen und die Probleme der Welt lösen könnten.

Zweitens tritt die Globalisierung dadurch in eine neue Phase ein. Die Verbreitung des Wohlstands über den ganzen Erdball und die Überbrückung der räumlichen Entfernungen durch den technischen Fortschritt bringt die Menschen immer stärker miteinander in Kontakt.

Betrachten Sie nur einmal die Stadt London, in der ich lebe und arbeite. Vernetzt, dynamisch und weltoffen gedeiht sie durch ihre Aufgeschlossenheit für andere Kulturen. Heute werden dort mehr als 300 Sprachen gesprochen. Es gibt 250 ausländische Banken und damit mehr als an jedem anderen Finanzplatz. London ist das führende Zentrum für islamische Finanzgeschäfte in der westlichen Welt. Und 75 Prozent der Unternehmen auf der Fortune-500-Liste haben dort eine Niederlassung.

Globale und regionale Drehscheiben wie diese verändern das Gesicht der Weltwirtschaft, und indem sie immer mehr Menschen anziehen, verändern sie auch unsere Lebensweise.

Damit bin ich beim dritten globalen Trend angekommen – der Verstädterung.

Vor zwei Jahren wurde hier ein historischer Wendepunkt erreicht, da erstmals über die Hälfte der Menschheit in Städten lebte. Und natürlich ist die Verstädterung längst kein rein westliches Phänomen mehr. Inzwischen wohnt über ein Drittel der Weltbevölkerung in den Städten der Schwellenländer. Dort wird praktisch das gesamte künftige Bevölkerungswachstum stattfinden, ebenso wie ein Großteil des künftigen Wirtschaftswachstums.

Halten Sie sich nur einmal vor Augen, dass es in China nicht nur über 40 Millionenstädte, sondern darüber hinaus aus noch 700 weitere schnell wachsende Großstädte gibt, von denen jede über eine halbe Million Einwohner hat. Diese Städte, deren Namen heute noch kaum bekannt sind, werden morgen die Wachstumsmotoren der Weltwirtschaft sein.

Diese Veränderungen sind seit vielen Jahren im Gang und schreiten immer schneller voran. Allerdings kann man wohl zu Recht behaupten, dass der Westen kaum darauf reagiert hat. Wir sind mit Scheuklappen herumgelaufen, aber nun hat uns die Finanzkrise die Augen geöffnet. Sie hat die Ungleichgewichte und untragbaren Praktiken aufgedeckt, die sich in den letzten Jahren entwickelt hatten. Wir alle sind aufgerufen, uns Gedanken über den aktuellen Zustand der Welt zu machen. Dabei sollten wir uns nicht nur fragen, wie wir es so weit kommen lassen konnten, sondern eine grundsätzlichere Analyse vornehmen, um einige unserer grundlegendsten Überzeugungen auf den Prüfstand und die zentralen Dogmen unseres Wirtschaftssystems in Frage zu stellen. Wir sollten auch bedenken, was wir über das Wesen des Kapitalismus an sich gelernt haben.

Das sich verändernde Wesen des Kapitalismus

Es ist wohl kein Zufall, dass mit dem Ende des Kalten Krieges eine Überhitzung des Kapitalismus einsetzte. Wenn sich so lange zwei gegnerische Mächte gegenüberstehen, kann es kaum verwundern, dass die eine durch den Kollaps der anderen außer Rand und Band gerät.

Der Erfolg des Kapitalismus führte zu Überheblichkeit, die Überheblichkeit zu Selbstzufriedenheit und diese wiederum zu einem fast fundamentalistischen Glauben an den Markt. Das Ziel einer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung wich der Verlockung des schnellen Geldes.

Dabei hat sich etwas sehr Bedeutsames ereignet, nämlich ein Wandel in der Weltanschauung der Wirtschaft und in mancher Hinsicht auch in der Weltanschauung der Gesellschaft. Dies ist die direkte Ursache der Probleme, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen.

Trotz ihrer enormen Ausmaße und ihrer großen Reichweite hat diese Krise dem Kapitalismus jedoch keinen tödlichen Schlag versetzt. So mängelbehaftet das System auch sein mag, hat es doch überlebt. Worauf ist das zurückzuführen?

Nun, zunächst einmal darauf, dass sich die Maßnahmen gegen die Krise bisher als wirksam erwiesen haben. Die Staaten der Welt haben schnell, entschlossen und vor allem gemeinsam gehandelt.

Bei ihrem Gipfel in London im April 2009 gaben die G20 eine Erklärung ab, die an Deutlichkeit nichts vermissen ließ: »Wir glauben, dass die einzige sichere Grundlage für eine nachhaltige Globalisierung und wachsenden Wohlstand für alle Menschen nur durch eine offene Weltwirtschaft, die sich auf marktwirtschaftliche Grundsätze, wirksame Regulierungsmechanismen und starke internationale Institutionen stützt, dargestellt werden kann.«

Dies ist eine bemerkenswerte Erklärung. Sie wurde nicht zuletzt von den Präsidenten der USA, der Russischen Föderation und der Volksrepublik China sowie den übrigen 17 Staatschefs unterzeichnet.

Dies veranschaulicht den zweiten und wesentlicheren Grund dafür, dass die Krise nicht das Ende des Kapitalismus bedeuten wird: Es gibt ganz einfach keine vernünftige Alternative.

So lautet ein berühmtes Zitat von Sir Winston Churchill: »Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, abgesehen von allen anderen, die von Zeit zu Zeit erprobt wurden.« Ich glaube, dass wir uns zur Verteidigung des Kapitalismus der Argumentation Churchills bedienen müssen. Er ist vielleicht das schlechteste System der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, abgesehen von allen, die bisher sonst noch erprobt wurden. Wie schlecht die Alternativen sind, hat uns natürlich das 20. Jahrhundert eindrucksvoll vor Augen geführt.

Der Weg zu einem besseren Kapitalismus

Dies ist jedoch kein Grund, sich zurückzulehnen oder sich mit dem Status Quo abzufinden. Der Kapitalismus hat sich eindeutig als unzulänglich erwiesen und bedarf einer Anpassung. Wenn er das einzige effektive System ist, das wir haben, dann müssen wir ihn zweifellos besser umsetzen und zugunsten einer Veränderung der Welt ethischer gestalten.

Vor allem muss der Kapitalismus allen dienen – nicht nur den Reichen und nicht nur dem Westen. Das Vertrauen der Öffentlichkeit ist zweifellos erschüttert. Die Menschen haben zu Recht den Eindruck, dass die Wirtschaft den Realitätsbezug verloren hat – dass die „unsichtbare Hand“ eigentlich nur dazu gut war, sie auszuplündern. Heute erwarten fast 70 Prozent der Menschen in aller Welt, dass die Unternehmen und die Finanzinstitute einfach wieder zur Tagesordnung übergehen werden, sobald die Rezession und ihre Folgen überstanden sind. Das ist kein erfreuliches Stimmungsbild. Es ist jedoch die logische Reaktion auf ein System, das seine Prinzipien und seine Zielsetzung eingebüßt hat.

Allerdings gibt es auch Hoffnungszeichen. Die Überzeugung der Chicagoer Schule, der einzige Geschäftszweck bestehe darin, Gewinne für die Aktionäre zu erwirtschaften, hat sich nicht nur aus moralischer, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht als unzulänglich erwiesen. Milton Friedman, der diesen Ansatz vertrat, sagte einmal:»Einer der großen Fehler besteht darin, Politik und Programme an ihren Absichten statt an ihren Ergebnissen zu messen«. Wir sollten ihn beim Wort nehmen, denn die Krise hat gezeigt, dass ein radikaler Marktliberalismus letztlich weder der Gesellschaft, noch dem Unternehmen, noch seinen Aktionären dient, da er nicht werterhaltend wirkt.

Hans Küng hat gesagt, dass er sich noch vor ein paar Jahren, wenn er über die ethischen Aspekte der Wirtschaft sprach, oftmals fühlte wie „die Stimme eines Rufenden in der Wüste.“ Das hat sich hoffentlich geändert. Um noch eine Metapher aufzugreifen, die von einem anderen großen Mann, nämlich von Robert F. Kennedy, stammt: »Jedes Mal, wenn sich jemand für ein Ideal einsetzt …. löst er eine kleine Welle der Hoffnung aus, und wenn diese von einer Million verschiedenen Kraft- und Mutquellen ausgehenden Wellen zusammentreffen, bilden sie einen Strom, der die stärksten Mauern der Unterdrückung und Abwehr einreißen kann.«

Dabei wächst inzwischen zweifellos die Einsicht, dass sich der Kapitalismus verändern muss – dass Gewinn und Verantwortung nicht zueinander im Widerspruch stehen, sondern sich gegenseitig bedingen. Die Wirtschaft hat eine größere Aufgabe und eine größere Verpflichtung. Und dies verlangt die Entwicklung eines angemessen regulierten und verantwortlichen Systems – eines ethischen Kapitalismus.

Wir müssen also ein Gleichgewicht herstellen. Unser Ziel muss darin bestehen, den Wildwuchs des Systems zu bändigen, dabei aber die Dynamik der Marktkräfte zu erhalten, die das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung ankurbeln. Ein ethisches System würde beweisen, dass Regulierung und Wirtschaftswachstum Hand in Hand gehen können und dass bessere Regeln und Vorschriften ohne eine neue Werteorientierung zwecklos sind.

Vor allem darf ein ethisches System aber nicht die großen Probleme unserer Zeit ignorieren, sondern muss im Gegenteil auf ihre Lösung hinwirken. Dabei geht es um Probleme wie Armut und Klimawandel – Probleme, die nicht nur die Zukunft der Weltwirtschaft, sondern auch den Fortschritt der Menschheit gefährden, wenn nichts gegen sie unternommen wird.

Armut und Entwicklung

An erster Stelle steht dabei natürlich das Dilemma von Armut und Entwicklung. Dabei glaube ich, dass wir dagegen keine bessere Waffe haben als den Kapitalismus.

Adam Smith hat erklärt: »Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, wenn der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist.« Ich bin der Ansicht, dass dieser Gedanke nicht nur auf eine Gesellschaft oder Nation, sondern tatsächlich auf die ganze Menschheit Anwendung finden sollte.

Im September fand in New York die Konferenz der Vereinten Nationen zur Überprüfung der Millenniums-Entwicklungsziele statt, nachdem sich die führenden Staatsmänner der Welt zehn Jahre zuvor verpflichtet hatten, bis 2015 das Leben der Armen in aller Welt zu verändern. Inzwischen sind es bis dahin nur noch fünf Jahre.

Es wurden große Fortschritte erzielt. So konnte die Zahl der Menschen, die weltweit in extremer Armut leben, von geschätzten 1,8 Milliarden im Jahr 1990 auf 1,4 Milliarden im Jahr 2005 gesenkt werden. Von dem Hauptziel, die weltweite Armut zu halbieren, sind wir jedoch offensichtlich noch weit entfernt.

Angesichts der veränderten Lage müssen wir die Aussichten für den künftigen Fortschritt neu bewerten. So schätzt die Weltbank, dass durch den globalen Abschwung wahrscheinlich rund 60 Millionen Menschen mehr in extremer Armut verharren werden, als dies ansonsten zu erwarten gewesen wäre.

Immerhin haben die G20 unmissverständlich klargestellt, dass die Bewältigung des Armuts- und Verteilungsproblems eine notwendige Voraussetzung langfristiger Stabilität ist – und dass sie Offenheit und Marktwirtschaft als Grundprinzipien der Weltwirtschaft betrachten.

Tatsächlich wissen wir, dass nichts den wirtschaftlichen Fortschritt so sehr beflügelt wie Marktliberalisierungen. In den 90er Jahren wurde von Jeffrey Sachs und Andrew Warner eine berühmte Studie durchgeführt, aus der hervorging, dass Entwicklungsländer mit offenen Volkswirtschaften ihre Wertschöpfung etwa alle 16 Jahre verdoppeln. Dagegen lässt sich der Fortschritt in geschlossenen Volkswirtschaften ihren Ergebnissen zufolge eher in Jahrhunderten messen.

Ich glaube, dass dieses Prinzip immer noch gilt. Im Falle Chinas wurde die Wirtschaft durch radikale Reformen geöffnet, was zu phänomenalen Wachstumsraten geführt hat, die mittlerweile schon über sehr lange Zeit aufrechterhalten werden können. Zwischen 1981 und 2005 hat China rund 600 Millionen Menschen aus nachweislicher Armut befreit. Sicherlich hat keine andere Kraft jemals auf so breiter Front so wirkungsvoll das Leben der Menschen zum Guten gewandt.

Die Herausforderung besteht nun darin, diesen Erfolg anderswo zu wiederholen. Afrika, das so lange als „hoffnungsloser Kontinent“ abgetan wurde, gibt jetzt Anlass zur Hoffnung. Es ist stabiler als jemals zuvor. Laut der Boston Consulting Group zeichnet sich die afrikanische Wirtschaft durch eine sehr viel größere Dynamik und mehr Unternehmergeist aus, als die meisten Leute denken. Die Beratungsfirma hat 40 so genannte „African Challengers“ bestimmt. Das sind wachstumsstarke, international ausgerichtete Unternehmen, deren Tätigkeitsspektrum von der Finanzwirtschaft über den Bergbau und die Telekommunikation bis zur Luftfahrt reicht und die voraussichtlich in den nächsten 10 bis 20 Jahren die Speerspitze des wirtschaftlichen Aufschwungs auf dem Kontinent bilden werden.

Afrika ist dabei, sich der globalen Wirtschaftsentwicklung anzuschließen, denn die Investitionen fließen dorthin nicht nur aus dem Westen, sondern auch aus China, Indien und Brasilien. Dabei kommt der Finanzdienstleistungsbranche eindeutig eine wichtige Funktion zu. Tatsächlich gibt es in der Geschichte kein einziges Beispiel für ein Land, dem es gelungen wäre, ohne ein starkes und florierendes Finanzdienstleistungsgewerbe im Herzen seiner Wirtschaft dauerhaft ein Wachstum oder eine positive Entwicklung zu erzielen.

Der Weg zu einem klimafreundlichen Wachstum

Ein weiteres Gebiet, auf dem ein ethischer Kapitalismus meiner Ansicht nach einen wichtigen Beitrag leisten kann und muss, ist die Entwicklung eines ökologisch nachhaltigen Wachstumsmodells.

Angefangen bei Malthus bis hin zur Endlichkeit der Ölreserven hat die Angst vor einer Plünderung des Planeten eine lange Geschichte. Aber der Klimawandel ist etwas anderes. Hier ist die Beweislage eindeutig, und die Bedrohungen sind enorm – von Überschwemmungen über Hungersnöte und Völkerwanderungen bis hin zum Krieg.

Mir ist durchaus bewusst, dass dies für manche Ohren seltsam klingen mag. Das gilt besonders für die Leute, die Finanzkrisen und Klimawandel für zwei Symptome derselben menschengemachten kapitalistischen Misere halten. Obwohl wir in den letzten drei Jahren daran erinnert wurden, dass die Märkte zerstörerische Exzesse auslösen können, glaube ich fest an ihre Fähigkeit, das menschliche und finanzielle Kapital für die Lösung einiger unserer größten Probleme einzusetzen. Ein Jahr nach dem Klimagipfel in Kopenhagen gibt es kaum Anzeichen für einen Fortschritt. Wenn diese Erfahrung uns eines lehrt, dann, dass die Regierungen dieses Problem nicht alleine in den Griff bekommen, sondern der Hilfe der Finanzmärkte und der Unternehmen bedürfen. Ich glaube, dass sie auf beiden Seiten der Gleichung – also sowohl bei der Eindämmung des Klimawandels als auch bei der Anpassung daran – eine Rolle zu spielen haben.

Im Wirtschaftskreislauf wird die Umwelt immer noch zu gering geschätzt. So gibt es nach wie vor das, was man in der Sprache der Wirtschaftslehrbücher die »Tragik der Allmende« nennen könnte, da für natürliche Ressourcen und insbesondere für die CO2-Emissionen keine angemessenen Preise bezahlt werden. Wir müssen den CO2-Ausstoss unbedingt der Marktdisziplin unterwerfen, um zu gewährleisten, dass seine wahren Kosten zum Tragen kommen.

Dass dies bisher nicht gelungen ist, wurde als »das größte Versagen des Marktes« bezeichnet, »das die Welt je gesehen hat.« Gleichzeitig bietet sich den Märkten damit jetzt aber auch die größte Chance, ihren Nutzen unter Beweis zu stellen.

Die Märkte sind außerdem ein wichtiges Mittel zur Finanzierung des technischen Fortschritts und der sauberen Energie, die wir zur Bekämpfung des Klimawandels benötigen. Sie werden Geld für eine Reihe von Jungunternehmen, technischen Innovationen und groß angelegten Infrastrukturprojekten bereitstellen, die alle finanzielle Unterstützung benötigen. Schon jetzt beträgt der jährliche Umsatz des klimabezogenen Wirtschaftssektors – also der Produkte und Dienstleistungen, die dazu beitragen, dem Klimawandel zu begegnen – rund 500 Milliarden Dollar. Dies ist übrigens mehr, als in der gesamten globalen Luftfahrtbranche verdient wird.

Dieses rasante Wachstum wird sich zweifellos im nächsten Jahrzehnt fortsetzen. Dabei gehen einige Schätzungen sogar davon aus, dass in nur zehn Jahren ein Volumen von zwei Billionen Dollar erreicht wird. Unabhängig davon, ob diese Zahlen stimmen oder nicht, kann kein Zweifel daran bestehen, dass dafür eine Menge Kapital nötig sein wird, das beschafft und effizient eingesetzt werden muss – eine Aufgabe die von der öffentlichen Hand oder der Zivilgesellschaft unmöglich bewältigt werden kann, ohne sich in erster Linie der globalen Marktmechanismen zu bedienen.

Ein ethischer Kapitalismus kann diese Herausforderung meistern, und das Wohl der Welt hängt davon ab, ob dies auch tatsächlich gelingt. Dabei gibt es einige ermutigende Hinweise darauf, dass das Anlegerverhalten zunehmend von einer Art „Klimabewusstsein“ durchdrungen ist. Daraus können sich im Laufe der Zeit enorme Impulse zur Senkung des CO2-Ausstoßes entwickeln.

Die globale Ethik und das Individuum

Aus all dem geht hervor, dass ein tiefgreifenderer Bewusstseinswandel nötig ist. Um uns den globalen Problemen zu stellen, Krisen in Zukunft zu vermeiden und einen nachhaltigen Wohlstand zu gewährleisten, an dem alle teilhaben, müssen wir das kapitalistische System neu erfinden. Und diese Neuerfindung des Systems kann nur von einzelnen Menschen vorangetrieben werden.

In Das Kapital zitiert Karl Marx einen Bericht über die erbärmlichen Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter in den 1860er Jahren:
»Um 2, 3, 4 Uhr des Morgens werden Kinder von neun bis zehn Jahren ihren schmutzigen Betten entrissen und gezwungen, für die nackte Subsistenz bis 10, 11,12 Uhr nachts zu arbeiten, während ihre Glieder wegschwinden, ihre Gestalt zusammenschrumpft, ihre Gesichtszüge abstumpfen und ihr menschliches Wesen ganz und gar in einem steinähnlichen Torpor erstarrt,«

Glücklicherweise funktioniert das System heute völlig anders. Die Macht ist stärker verteilt, und die Menschen haben aufgehört, reine»Sklaven eines grausam schindenden Despotismus« zu sein. Stattdessen können sie einen enormen Einfluss ausüben, und zwar zum Guten wie zum Schlechten.

So ist etwa klar, dass die Hauptdefizite im Vorfeld der Krise die Verhaltens- und Kulturmuster und nicht die organisatorischen Strukturen betrafen. Allzu oft hatten die Menschen das Gebot der Redlichkeit und eines ehrlichen und vertrauenswürdigen Geschäftsgebarens aus den Augen verloren. Bei einigen Finanzinstituten herrschte vor der Krise die Einstellung »wenn der Markt es zulässt, wenn es einen Vertrag gibt, dann erübrigen sich alle weiteren Fragen.«

Ganz gleich wie viele neue Gesetze, Regelungen oder Bilanzierungsvorschriften wir bekommen, sie werden niemals ausreichen, wenn sich nichts an der Kultur ändert – wenn es kein Wertesystem gibt, das jedem Einzelnen als Entscheidungsgrundlage dient.

Mir war immer deutlich, dass die meisten meiner früheren Mitarbeiter mit ihrer Arbeit und durch das Unternehmen einen gesellschaftlichen Beitrag leisten wollten. Die Führungskräfte tragen die Verantwortung dafür, diesem Wunsch Raum zu geben. Eine zentrale Aufgabe jedes Unternehmens sollte darin bestehen, allen Mitarbeitern zu vermitteln, wie sie einen Beitrag leisten und etwas bewegen können, und ihnen dazu auch die Gelegenheit und die nötige Unterstützung zu bieten. Dann ist ein Unternehmen nicht mehr nur eine Ansammlung von Beschäftigten, sondern ein Zusammenschluss engagierter Bürger.

So ist etwa HSBC seit langem bestrebt, eine firmeneigene Wertekultur zu pflegen und draußen in der Welt eine positive Rolle zu spielen. Charles Addis, eine der herausragenden Führungspersönlichkeiten der frühen Firmengeschichte von HSBC, schrieb zu Beginn des letzten Jahrhunderts in einem Brief: »Letztlich ist die Basis aller ökonomischen Konzepte ethischer Natur.« Damit hatte er Recht. Vieles hat sich seitdem verändert, nicht aber diese Maxime.

Die Harvard University hat mittlerweile einen Ethikeid eingeführt, den die Studenten der Betriebswirtschaft ablegen müssen. Darin heißt es unter anderem: »Ich werde einen Kurs verfolgen, der langfristig den Wertbeitrag steigert, den mein Unternehmen für die Gesellschaft leisten kann.«

Darauf gab es eine ganze Reihe von Reaktionen einschließlich einiger ziemlich gehässiger Kommentare. Aber ich halte das im Grunde für eine schöne Idee. Hier werden die Führungskräfte der Zukunft aufgefordert, die weitreichenderen Konsequenzen ihres Handelns zu bedenken. Sie werden aufgefordert, zu versprechen, dass all ihre Entscheidungen von Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Nachhaltigkeit geprägt sein werden.

Der springende Punkt ist, dass wir uns alle, ob in der Wirtschaft oder im Bildungswesen, die Zeit dafür nehmen sollten. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, was wir verehren, was wir bewundern, was wir schätzen und was wir für richtig halten. Wir sollten uns fragen, was wir unter Fortschritt verstehen. Ist er materiell oder moralisch? Besteht er in der Anhäufung von Reichtümern oder in unserer Lebensqualität? Wird er an der Stärke einer Nation oder dem Wohlstand aller Nationen gemessen?

Keine der Sphären, in denen wir uns bewegen – unsere Familie, unsere Freundschaften, unser Arbeitsleben, unsere Forschungstätigkeit – sind neutraler Boden. Und all diese Fragen müssen beantwortet werden, wenn wir in einer modernen, kapitalistischen Wirtschaftsordnung rechtschaffen und zielbewusst überleben wollen.

Schlussfolgerungen

Es ist zweifellos ein menschlicher Instinkt, sich gegen Veränderungen und eine unsichere Zukunft zu wehren. Wie können wir also die Bewältigung all dieser Herausforderungen in Angriff nehmen?

Als Gast in Tübingen möchte ich zum Abschluss auf das Werk eines anderen, viel berühmteren Besuchers dieser Stadt verweisen. Gemeint ist Johann Wolfgang von Goethe, der 1797 hier weilte.

Eine der großen Gefahren des Strebens nach Sicherheit in der modernen Welt ist die Versuchung, sich wie Goethes Faust für die sofortige und ungetrübte Befriedigung zu entscheiden und dafür alle Folgen billigend in Kauf zu nehmen. Und das, obwohl wir wissen, dass sich der Handel am Ende als Illusion erweisen wird, weil er uns weder Erfüllung bringt, noch unsere Zweifel bannt.

Goethes Faust ist der Archetypus des Menschen, der Selbstbestätigung durch Taten und Besitz sucht. In seiner Welt ist man nichts, wenn man es zu nichts bringt. Und das bedeutet für ihn, mehr zu tun und mehr zu haben. Aber wie gesagt ist dabei klar, dass dieser Weg nicht zur Erfüllung führt.

Erst am Ende seines Lebens erfährt Faust endlich Genugtuung, und zwar nicht durch eine übermenschliche Leistung oder einen unerhörten Luxus, sondern durch ein einfaches Vorhaben zum Wohle seiner Mitmenschen – einen Dammbau, durch den er Land für künftigen Wohlstand gewinnen will. Im Angesicht des Todes ruft er aus:

»Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn.«

Dies ist also der Weg, den wir einschlagen sollten. Um ein erfülltes Leben führen und auf eine bessere Zukunft hinarbeiten zu können, müssen wir fähig sein, die Unwägbarkeiten der modernen Welt anzunehmen und zu akzeptieren und unseren Platz in dieser Welt zu finden. Und genau auf diese Weise werden wir ein Gespür für gemeinsame Werte und damit für eine globale Ethik entwickeln.

Dabei haben nicht alle Werte universelle Gültigkeit. Jeder von uns betrachtet die Welt durch ein Prisma, das durch unsere Werte, unsere Erfahrungen und unseren Glauben bestimmt ist. Diese individuellen Einflüsse prägen unser Verständnis von der Welt und von unserem Platz darin.

Natürlich hat jeder ein anderes Prisma und damit eine andere Perspektive. Trotz aller Unterschiede teilen wir aber im Grunde dieselben menschlichen Gefühle, die uns verbinden. Und insbesondere herrscht eine Übereinkunft über die gemeinsamen Werte und Grundsätze, die wir benötigen, um auf einem globalen Marktplatz unsere wirtschaftlichen Aktivitäten zu entfalten.

Von dieser simplen Wahrheit sollten wir uns leiten lassen – von der Erkenntnis, dass das Konzept einer globalen Ethik nicht mehr und nicht weniger ist als der Weg, den jeder Einzelne von uns wählt, so schwer dies auch zu begreifen sein mag. Die Herausforderung besteht darin, das größere Bild zu erkennen – zu verstehen, wie unsere Handlungen mit den Handlungen unserer Mitmenschen zusammenwirken und so etwas Größeres schaffen, das über uns selbst hinausweist und letztlich die Weltwirtschaft und den»allgemeinen und nachhaltigen Wohlstand« zustande bringt, der in dem anfangs zitierten Manifest beschrieben wird und den wir uns alle wünschen.

Zum Hintergrund: Stephen K. Green hielt diesen Text als 9. Weltethos-Rede am 16. Dezember 2010 in Tübingen. Der Verwaltungsvorsitzender von HSBC Holding PLC folgte der Einladung von Professor Hans Küng. Im Anschluss an seine Rede führte Stephen K. Green einen Dialog mit Professor Küng.

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