Mao Tse Tung, Josef Stalin, Adolf Hitler oder Pol Pot waren große Tyrannen und Massenmörder unserer Menschheitsgeschichte. Wenigstens eines hatten sie alle gemein: Sie töteten nicht im Namen der Religion. Allein im Ersten und Zweiten Weltkrieg starben insgesamt mehr als 70.000.000 Menschen für den Unwillen der Nationen sich mit den Ergebnissen der nationalen Konkurrenz zufrieden zu geben. Wurde das viele Blut etwa im Namen der Religion vergossen?
Vielmehr führte das Dritte Reich seine kriegerischen Auseinandersetzungen vordergründig, um durch die Besetzung verschiedener Territorien den Lebensraum zu erweitern und durch die Aneignung von Besitztümern, den durch die Aufrüstung aus den Fugen geratenen Finanzhaushalt zu stabilisieren. Weitere Kriege im 20. Jahrhundert, wie zum Beispiel in Korea, Kambodscha, Vietnam oder im Irak, zeigen abermals, dass aus machtpolitischen, ideologischen, strategischen und wirtschaftlichen Gründen getötet wurde.
Im Jahre 2004 veröffentlichten Charles Phillips und Alan Axelrod eine Zusammenstellung aller Kriege der Menschheitsgeschichte. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass von etwa 1763 dokumentierten Kriegen lediglich 123 als religiöse Konflikte eingestuft werden können.
Der organisierte Wahnsinn
Religion wird in unserer Gesellschaft mehr und mehr zum Fremdkörper degradiert. Wie beurteilen wir das Fremde, das Andere? Wir beurteilen es nach den Vorgaben unserer “mentalen Festplatte”, auf der persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungen gespeichert sind. Oft lagern sich zufällig Wissen und Meinungen ab, die im nächsten Schritt miteinander verknüpft werden. So entsteht ein Bild. Das Bild zeigt etwa die drei in erbitterter Feindschaft gegenüberstehenden monotheistischen Religionen. Sie seien im speziellen gewaltanfälliger, da nur ein Gott im Zentrum stünde, so die Behauptung. Hingegen seien polytheistische Religionen friedfertig.
Die Geschichte zeichnet jedoch ein anderes Bild und macht deutlich, dass jede Religion geschichtlichen Entwicklungen und situationsbedingten Anpassungen unterworfen war. So sind die brutalen Heere der polytheistischen Griechen, buddhistische Mönchsarmeen oder die hinduistische Kriegerkaste genauso ein Teil der Geschichte, wie die christlichen, muslimischen oder jüdischen Kriege. Aber sind Handlungen der Relgiösen gleich religiöse Handlungen?
Fakt ist, dass keine Religion einen einheitlichen Block darstellt. Dementsprechend kann nicht behauptet werden, dass die religiöse Welt voller Konflikte sei, dagegen die areligiöse Welt vollkommen friedfertig. Gerne picken wir uns konkrete Instanzen aus abstrakten Entitäten heraus, um sie für das Ganze zu nehmen und Binsenwahrheiten daraus formulieren zu können.
Schon Immanuel Kant postulierte, dass die menschliche Natur eine destruktive Kraft in sich trage. Gemäß René Girard macht diese das Individuum gewaltanfällig, da der Mensch begehrt. Und wenn mehrere Menschen das gleiche begehren, steigt das Interesse an dem Objekt. Nicht weil der Mensch das Objekt braucht, sondern weil der Andere das Objekt besitzt. Es entsteht ein Mechanismus von Neid, Gier, Hass, Rivalität und Eifersucht. Durch Nachahmung des Anderen bilden sich Gruppen. Die Gewalt aller gegen alle schaukelt sich hoch und das Objekt der Begierde spielt keine Rolle mehr.
Der geheiligte Krieg
Das Töten von Individuen oder die Auslöschung von Massen zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Es geschah im Namen der Ehre, aus Rachsucht, auf der Suche nach Nahrung und Besitztürmern oder im Streben nach Weltherrschaft. Auch blieb die Religion als Kriegsgrund nicht verschont. Als Papst Urban II. in seiner Predigt zum Kreuzzug für die Befreiung Jerusalems von den Heiden rief, antwortete die Menschenmenge: “Deus lo vult!” (dt. “Gott will es!”).
Doch was wollte Gott? Was wollte der Papst? Und was wollte der Herrscher? Erstaunlicherweise stoßen wir ein jedes Mal auf ähnliche Motivationsmuster: “Die Anderen sind im Vormarsch! Ihr Einfluss weitet sich aus! Ihre militärische Kraft vergrößert sich! Ihre Ressourcen häufen sich an!…und wusstet ihr, dass die Anderen herzlose Barbaren sind, ungesittete Heiden?” Der Redner, der solche Worte von sich gab, ist ein Charismatiker, der es versteht, jegliche Zweifel daran zu zerstreuen, dass der Aufruf zum Einsatz von Schwert und Feuer im Namen der Religion zu hinterfragen sei. Für den heutigen Menschen in West oder Ost ist dies kaum vorstellbar. Er identifiziert sich mehr über die Staats-, Volks- oder Kulturzugehörigkeit als über die Religion.
Religion bewirkt im Gegensatz zu anderen Identifikationsmerkmalen eine Metamorphose der Herzen. Religion ist keine Politik und seine Anhänger formieren sich nicht als politische Partei. Religion ist keine Nation mit ihren begrenzten Loyalitäten oder ein Staat mit geographischen Grenzen. Da Religion eine Herzensangelegenheit ist, konnten nicht selten betrügerische und machtsüchtige Menschen eine unvernünftige Masse dazu bewegen, Taten zu vollbringen, die bis dahin sogar ihren eigenen Moralvorstellungen widersprachen.
Vergegenwärtigt man sich Israel-Palästina-Konflikt, sieht man scheinbar Muslime gegen Juden kämpfen, in Syrien: Schiiten gegen Sunniten oder in Nigeria: Christen gegen Muslime. Tatsächlich ist Religion schon seit langer Zeit keine Kriegsursache mehr, sondern eine Ausdrucksform, die einem Krieg im Laufe des Konflikts verliehen wird. Ohne einen Blick auf die Kausalität kann ein Konflikt nicht korrekt eingeordnet werden. Bei Konflikten unserer Zeit, die als religiösmotiviert charakterisiert werden, bildet sich erst im Verlauf der Entwicklungen ein entsprechendes Bewusstsein oder eine Verhärtung einer bestimmten Identität heraus. Dadurch wird der Konflikt in seiner Komplexität reduziert und übersichtlicher gemacht. Zudem wird durch die Festigung der Gruppenzugehörigkeit und der strikten Rollenverteilung in Gut und Böse, der Konflikt zu einem ständigen Konflikt, der unverhandelbar ist.
Nehmen wir einmal das ehemalige Jugoslawien als Beispiel. Dort gab es Serben, Kroaten, Slowenen und Bosnier. Jede Volksgruppe hätte sich auf seine eigenen Besonderheiten berufen können. Doch die Serben setzten auf eine panslawische Identität, womit sie die Karte der sprachlichen Verwandtheit ausspielten. Den Bosniern blieb keine andere Wahl, als auf ihre religiöse Zugehörigkeit zu setzen, womit sie automatisch Muslime weltweit ansprachen. Tatsache ist, dass bosnische Muslime wenige bis überhaupt nicht praktizierende Gläubige sind. Trotzdem gesellten sich in ihrem Kampf gegen die panslawische Gruppe Kämpfer aus aller Welt hinzu, die sich als Muslime bezeichneten. Jeder von ihnen kam als muslimischer “Bruder” mit einer persönlichen Agenda. Ganz oben stand bei ihnen der Kampf gegen den “Westen”. Zugleich war es ihnen ganz egal, ob sie im Nahen Osten, Afghanistan oder in Bosnien kämpften. Dem Kampf, den sich die “Gotteskrieger” hingaben, wurde allein um des Krieges Willen ausgetragen. Hierbei gehörte die kontinuierliche Ignoranz gegenüber islamischer Ethik und Moral zur allgemeinen Praxis der Freiheitskämpfer.